FacebookTwitterPinterestTumblr

Inside Redbubble

Die menschliche Leinwand: Tim, der Tattoo-Mann

„Ich hockte 500 Stunden lang bewegungslos in Tasmanien auf einer Kiste. Aber das ist keine Performance-Kunst, weil ich kein Künstler bin. Ich bin ein Kunstwerk. Wenn ich sterbe, wird meine Haut abgezogen, gerahmt und dem aktuellen Besitzer übergeben.“

Das Tätowieren ist mehr als 5000 Jahre alt. Das lernen wir bei Google. Auch wenn die grundsätzliche Idee die gleiche geblieben ist, gibt es heute vielfältigere Motivationen, sich tätowieren zu lassen, als jemals zuvor. Einige werden nur deshalb zur Leinwand, weil sie betrunken ein dringendes Verlangen danach spüren. Andere tun es aus Liebe, für die Mode, oder um ihren Widerstand zu verkünden – aber es gibt auch noch andere Gründe.

In den Neunzigern begann der belgische Neo-Konzeptkünstler Wim Delvoye ein neues Projekt, bei dem es um das Tätowieren von Schweinen ging. Dafür errichtete er eine Live-Kunstfarm in Peking. Ein wichtiger Bestandteil der Idee war es, dabei zuschauen zu können, wie die Schweine buchstäblich im Wert wuchsen. Dieses Werk konnte in seiner Wirkweise an einem bestimmten Punkt nur noch übertroffen werden, wenn eines der „Kunstobjekte“ irgendwann starb. Die unvermeidliche Konsequenz dieses Projekts ergab sich also im Jahr 2006, als sich der 35 Jahre alte, in der Schweiz geborene Londoner Tim Steiner freiwillig meldete, ein Teil von Wims Wanderausstellung zu werden, und ihm seinen Rücken als Leinwand anbot. Für 200.000 Euro, so heißt es, wurde das Kunstwerk, also tatsächlich die Haut auf Tims Rücken, an einen deutschen Sammler verkauft. Ich hatte kürzlich das Vergnügen, mit Tim über Kunst, den Tod und den abwegigsten Vertrag, von dem man jemals gehört hat, zu sprechen.

Wie hast du Wim kennengelernt? Warst du mit seiner Arbeit vertraut?


Foto: MONA und Remi Chauvin.

2006 war Wim Teil einer Gruppenausstellung in der Züricher „de Pury & Luxembourg Gallery“. Meine Freundin hat dort gearbeitet und Wim kam zu ihr und erzählte, dass er nach einem Menschen sucht, mit dem er das gleiche machen könne wie mit seinen Schweinen. Er fragte, ob sie jemanden kenne, und da ich ein paar Tattoos hatte, rief sie mich an und erzählte mir, dass einer ihrer Künstler nach einer Person sucht, die er tätowieren und verkaufen kann.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, dass sie von Wim sprach (dessen Arbeit ich seit Jahren liebte), aber ich habe sofort zugesagt. Es klang wild und andersartig, und in der heutigen Kunstwelt war es an der Zeit, dass eine Person in eine Ware verwandelt wird.

Mit welchen Überlegungen hattest du zu kämpfen? Was hat dich dazu gebracht, Ja zu sagen?

Ich habe sofort zugesagt. Hab überhaupt nicht viel drüber nachgedacht. Es klang wie ein außergewöhnliches Erlebnis, eine einzigartige Sache. Keine Gedanken, ich habs einfach gemacht. Ich denke, dass das Leben einem manchmal etwas zuwirft und man es einfach geschehen lassen muss.

Es ist Bestandteil deines Vertrages, dass du das Kunstwerk drei Mal pro Jahr ausstellen musst, in öffentlichen und privaten Shows in den verschiedenen Ecken der Welt. Das bedeutet, dass du um die halbe Welt reist, nur um dort ohne Shirt zu sitzen und in eine Ecke des Raumes zu starren. Wie fühlt es sich an, auf diese Art und Weise zur Schau gestellt zu werden? Bist du dir dann der Tatsache bewusst, dass du als Kunstwerk betrachtet wirst?

Das hängt ganz davon ab, wo die Show ist. Manchmal habe ich mich extrem verletzlich und nackt gefühlt. Bei MONA dagegen fühlte ich mich großartig. Alle haben sich so gut um mich gekümmert, dass ich mir überhaupt keine Sorgen gemacht habe. Zu Beginn jeder Show bin ich immer sehr nervös, aber mit der Zeit ziehe ich mich einfach in meinen Kopf zurück. Die Musik, die ich dabei höre, hilft mir sehr, da die Welt um mich herum verschwindet und ich keine Ahnung mehr habe, was um mich herum passiert. Ich liebe es / ich hasse es. Es ist alles auf einmal.


Bildquelle: Wim Delvoye
Seit dem ersten Verkauf sind ein paar Jahre vergangen. Hat sich deine Perspektive oder die Philosophie hinter der Arbeit und deine Entscheidung, Teil davon zu sein, seit deiner Zustimmung damals verändert?

Ja. Das Projekt und ich, wir sind beide gewachsen. Zu Beginn habe ich mich manchmal wie ein Clown gefühlt, aber mittlerweile gibt es eine bestimmte Akzeptanz vonseiten der Kunstszene für das, was wir gemacht haben. Das macht es einfacher. MONA und der Louvre waren extrem wichtig für mich. Ich hatte immer das Gefühl, dass das hier eine große Sache ist, aber es fühlt sich gut an, Anerkennung von den Profis zu bekommen.

Denkst du viel über die Tatsache nach, dass du letztlich als Kunstwerk gekauft wurdest? Ändert es etwas daran, wie du dich selbst wahrnimmst oder was Kunst für dich ist?

Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem, was ich mache, und jedem anderen, der einen Arbeitsvertrag hat. Kunst ist eine Idee. Alles ist eine Idee, ein Konzept, eine begrenzte Sichtweise. Ich habe festgestellt, dass ich, wie im Grunde jeder und alles andere, auf der Suche nach Antworten auf Fragen bin, die wir noch nicht wirklich verstehen. Mein Spektrum hat sich erweitert, ich habe durch dieses Projekt großartige Dinge gelernt. Ich habe mich aus neuen Blickwinkeln gesehen und genieße ganz einfach die bizarre Intensität des Ganzen.

Hast du es jemals bereut, dass du dich auf das Projekt eingelassen hast?

Nein. Ich hatte ziemlich verzweifelte Momente, aber bereut habe ich es nie.


Bildquelle: Tim Steiner

Einer der interessantesten Aspekte beim Verkauf des Kunstwerks ist wohl die Frage, was nach dem Tod passiert. Kannst du mir erzählen, was passiert und was du darüber denkst?

Wenn ich sterbe, wird meine Haut abgezogen, gerahmt und dem aktuellen Besitzer übergeben. Von allen Dingen, die mit diesem Werk zusammenhängen, interessiert mich dieser Aspekt am wenigsten. Ich bin dann tot. Nicht mehr da. Wen interessiert das schon? Ich bin Organspender und mein Rücken ist einfach nur Haut. Früher fand ich es cool, dass man sich an mich erinnern wird – aber man wird sich an Wim erinnern, nicht an mich. Es ist ein Wim-Delvoye-Kunstwerk, kein Tim Steiner. Und das ist völlig in Ordnung.


Foto: MONA.

Ich würde gerne mehr über die Person erfahren, die das Werk erstanden hat. War es dir wichtig, wer „dich gekauft“ hat? Hast du diese Person vorher oder seitdem getroffen? Worüber habt ihr gesprochen?

Als es mit dem Projekt losging, gab es einen deutschen Kunstsammler aus Hamburg namens Rik Reinink, der an verschiedenen Ausstellungen in der „de Pury & Luxembourg Gallery“ in Zürich mitgearbeitet hat. Wir haben uns getroffen und großartig verstanden. Als das Werk fertig war und zum Verkauf stand, habe ich ihn kontaktiert und es ihm angeboten. Rik musste sich erstmal mit der Idee anfreunden, aber schließlich hat er zugestimmt und das Kunstwerk wurde an ihn verkauft. Als ihm ein anderer Sammler erzählte, dass „dieses Stück die Handschrift des Teufels trägt“, wusste er, dass er es haben musste. Wir sind im Laufe der Jahre sehr gute Freunde geworden und es war eine große Freude, dies gemeinsam zu erleben. Wir sind auch im gleichen Alter, das hilft.

Das weist auf einen weiteren interessanten Aspekt hin. Wenn Rik im gleichen Alter ist, bedeutet das dann nicht im Grunde, dass er sterben könnte, bevor er das „vollendete Werk“ zu sehen bekommt? Was passiert dann?

Es ist unwahrscheinlich, dass Rik das Stück dann noch besitzt. Wim wünscht sich irgendwann einen Weiterverkauf. Sekundärmarkt mit Auktion und Gewinn. Mit allem Drum und Dran. Das Konzept wirklich auf die Spitze treiben. Wim möchte, dass ich wie ein Stück Grundbesitz bin und dass Menschen in Anzügen auf meine lebendige Haut bieten. Rik weiß das. Ich würde auch gern wissen, wie es mit verschiedenen Besitzern ist. Wim nennt es eine Ware. Rik besitzt sie jetzt, der Wert steigt, er verkauft, immer weiter, bis ich sterbe. Nicht anders als bei jedem weiteren Artikel am Markt.


Bildquelle: Wim Delvoye

Ich erinnere mich dunkel an ein Zitat aus einem lange vergessenen Film, dass jeder weiß, dass der Tod eines Tages kommen wird, und trotzdem heimlich glaubt, dass er ihm irgendwie entgehen kann. Hast du das Gefühl, dass diese dauerhafte Markierung auf deinem Rücken deinen Tod realer oder unmittelbarer macht? Hat es die Art und Weise verändert, wie du Kunst betrachtest – oder das Leben?

Ich stimme dem Zitat aus dem Film voll und ganz zu. Ich bin durch dieses Projekt auch auf eine seltsame Art mit dem Tod konfrontiert. Es gibt einen tatsächlichen Fokus auf meinen Tod. Bis dahin gibt es eine Geschichte. Meine Geschichte. Es ist die Geschichte des Kunstwerks, aber auch wieder nicht. Weil das Werk und ich getrennt sind, aber wiederum auch nicht. Für mich ist das Tattoo ständig da und existiert nicht. Es macht mich lebendiger, aber mit einer gewaltigen Dosis meines eigenen Todes, der gleich um die Ecke lauert. Es macht für mich vollständig und überhaupt keinen Sinn. Ich mache diese sehr öffentliche Sache, die im Grunde nichts mit mir zu tun hat. Es ist Wim. Wie viel davon ist Tim? Ich weiß es nicht. Ich versuche Leuten zu vermitteln, warum ich das mache. Die Mehrheit versteht es nicht, oder es ist ihnen egal. Ich hockte 500 Stunden lang bewegungslos in Tasmanien auf einer Kiste. Aber es ist keine Performance-Kunst, weil ich kein Künstler bin. Ich bin ein Kunstwerk. Das ein anderer geschaffen hat. Die Sache mit dem Tod beschäftigt mich nicht so sehr. Was mir manchmal Sorgen macht, ist die Abhängigkeit von anderen Leuten. Es gibt viele Partys, auf denen ich tanzen und die Gastgeber glücklich machen muss. Wenn sie verschwinden, verschwinde auch ich. Aber der einzige, der das hier tatsächlich macht und lebt, bin ich.

Was ich aufgrund dieses Projektes in den letzten sechs Jahren erlebt habe, war Fluch und Segen zugleich. Ich habe mich verkauft. Von jetzt an bis zum Ende. Das macht mich manchmal irre. Aber ich will das durchziehen. Ich finde, es ist sehr real, und für mich ist es sehr wichtig geworden. Ich bin etwas geworden, über das ich keine Kontrolle habe. Ich muss es einfach geschehen lassen. Kunst, die das Leben imitiert. Leben, das die Kunst imitiert. Gleicher Unterschied.

Was hältst du von Tims Arbeit? Wie würdest du dich damit fühlen, deine eigene Haut zu verkaufen? Hältst du das für Kunst? Wir würden gern unten deine Gedanken dazu erfahren.

View additional posts by Redbubble

Redbubble

Offizielle News und Updates